Was ist Logotherapie / Existenzanalyse?
Autor: Alexander Batthyány
Ausgehend von der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie
Alfred Adlers entwickelte der Psychiater und Neurologe Viktor Emil Frankl
(1905–1997) in den frühen Dreißiger Jahren einen eigenständigen Ansatz, für
den er den Doppelbegriff „Logotherapie und Existenzanalyse“ prägte.
Logotherapie und Existenzanalyse, auch „Dritte Wiener Richtung der
Psychotherapie“ genannt, ist eine international anerkannte, empirisch
untermauerte sinnzentrierte Psychotherapierichtung.
Frankls Konzept leitet sich aus drei philosophischen und psychologischen
Grundgedanken ab:
Freiheit des Willens
Wille zum Sinn
Sinn im Leben
Freiheit des Willens
Die Logotherapie/Existenzanalyse sieht den Menschen als nicht nur
bedingtes, sondern
auch als grundsätzlich entscheidungs- und willensfreies Wesen, das befähigt
ist, zu inneren (psychischen) und äußeren (biologischen und sozialen)
Bedingungen eigenverantwortlich Stellung zu nehmen. Die Freiheit des Menschen
ist dabei definiert als der Gestaltungsfreiraum des eigenen Lebens im Rahmen
der jeweils gegebenen Möglichkeiten. Diese Freiheit ist begründet in der
geistigen Dimension des Menschen, die neben Körper und Psyche seine
eigentliche Personalität und Würde ausmacht. Als geistige Person ist der
Mensch nicht mehr nur reagierendes oder abreagierendes, sondern auch
agierendes, gestaltendes Wesen.
Die Freiheit des Menschen spielt auch in der angewandten Psychotherapie eine
entscheidende Rolle, insofern sie dem Patienten Freiräume gegenüber der
somatischen oder psychischen Erkrankung aufschließt, bzw. im Rahmen der von
Frankl entwickelten Techniken der Paradoxen Intention, der Dereflexion und
der Einstellungsänderung durch die Differenzierung von Symptom und Person
dem Patienten einen Großteil seiner Selbstbestimmungsfähigkeit zurückgibt.
Wille zum Sinn
Der Mensch ist nicht nur frei, sondern in erster Linie frei auf etwas
hin. Seine Gestaltungsfähigkeit sucht nach Ausdrucksmöglichkeiten in sich
und der Welt. Logotherapie und Existenzanalyse betrachten die Suche nach
Sinn als Grundmotivation des Menschen. Kann der Mensch seinen "Willen zum
Sinn" in der Lebenspraxis nicht zur Geltung bringen, so entstehen bedrückende
Sinn- und Wertlosigkeitsgefühle. Die existentielle Frustrierung des
Sinnbedürfnisses kann zu Aggressionen, Sucht, Depressionen, Verzweiflung
und Lebensmüdigkeit führen und auch psychosomatische Krankheiten und
neurotische Störungen auslösen oder verstärken.
Die Logotherapie/Existenzanalyse (LTEA) hilft dem Patienten, Hemmungen und
Blockaden, die ihn im
Prozess seiner Sinnsuche behindern, zu erkennen, aufzuheben oder zu bewältigen.
Sie sensibilisiert ihn für die Wahrnehmung von Sinnmöglichkeiten; dabei macht
die LTEA dem Menschen keine Sinnangebote; sie unterstützt ihn vielmehr
bei der Verwirklichung der von ihm selbst entdeckten Sinnmöglichkeiten.
Sinn im Leben
Die LTEA ist von dem Gedanken getragen, dass Sinn
eine Wirklichkeit in der Welt ist und nicht nur im Auge des Betrachters liegt.
Demnach ist der Mensch durch seine Willensfreiheit und
Verantwortungsfähigkeit aufgerufen, das Bestmögliche in sich und der Welt zur
Geltung zu bringen, indem er in jeder Situation den Sinn des Augenblicks
erkennt und verwirklicht. Wesentlich ist hier auch, dass das Sinnangebot
des Augenblicks, obwohl objektiv gegeben, situations- und personengebunden
ist und als solches einem fortwährenden Wandel unterliegt. Die LTEA
offeriert daher keinen allgemeinen Lebenssinn, sondern verhilft dem Patienten
zu jener Offenheit und Flexibilität, die Voraussetzung für eine sinnvolle
Gestaltung seines Alltags ist. Denn in jeder Situation warten auf jeden
Menschen jeweils andere Sinnmöglichkeiten darauf, von ihm erkannt und
verwirklicht zu werden.
Techniken der LTEA (Auswahl)
Paradoxe Intention
Indikation: vor allem Zwangs- und Angststörungen; vegetative Syndrome.
Der Patient lernt unter Anleitung des Arztes oder Therapeuten, Angst- und
Zwangsgedanken durch Selbstdistanzierung und Ironisierung zu überwinden und
dadurch den Kreislauf von Symptom und Symptomverstärkung zu unterbrechen.
Dereflexion
Indikation: u.a. Sexual- und Schlafstörungen, auch Angststörungen.
Das übermäßige Beobachten an sich autonomer Vorgänge kann deren
natürlichen Ablauf stören. Auch an sich schwache und natürliche Angst-
oder Trauergefühle werden durch übersteigerte Aufmerksamkeit verstärkt,
wodurch sie wiederum vermehrt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ziel der
Dereflexion ist es, diesen neurotisierenden Teufelskreis zu durchbrechen,
indem die übertriebene Aufmerksamkeit von einem Symptom bzw. einem
natürlichen Vorgang abgezogen wird.
Einstellungsänderung (auch: Einstellungsmodulation)
Bestimmte Lebenshaltungen und -erwartungen können den Menschen so
sehr von der Wirklichkeit und den Möglichkeiten seines Daseins
entfremden, daß sie neurotische Störungen entweder verstärken
oder durch wiederholte Fehlentscheidungen und Selbstprägung
auslösen. Ziel ist es hier nicht, dem Patienten von außen
eine andere Einstellung nahezulegen; vielmehr soll der Patient
selbst dazu geführt werden, Einsicht in unrealistische oder
lebensfeindliche Einstellungen zu gewinnen und neue Grundhaltungen zu
entwickeln, auf deren Basis Leben gelingen kann.
Sokratischer Dialog
Der Sokratische Dialog ist eine Gesprächsmethode der LTEA.
Durch gezieltes Fragen und Gegenfragen soll dem Patienten die ihm eigene
Einsicht seiner Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten bewußt gemacht werden.
Im Sinne der von Sokrates konzipierten Weise handelt es sich hierbei um eine
Art geistige Hebammenarbeit – wiederum gilt, dass der Prozess der
Einsichtsfindung und der Inhalt der Einsicht nicht vom Therapeuten, sondern
vom Patienten selbst ausgeht: „Sinn muß gefunden werden, kann nicht gegeben
werden.“
Begriffserläuterung
Logotherapie
"Logos" bedeutet im Zusammenhang mit der Logotherapie "Sinn".
Logotherapie heißt also nicht, daß man etwa versucht, die Patienten mit
logischen Argumenten zu überzeugen; vielmehr sucht man ihnen zielorientiert
und methodisch bei der eigenen Sinn-Findung zu helfen.
Logotherapie ist die angewandte Psychotherapie auf Grundlage des von Viktor
Frankl entwickelten psychologischen Modells.
Existenzanalyse
Existenzanalyse ist einerseits eine der Logotherapie zugrundeliegende
Forschungsrichtung, andererseits selbst Teil des therapeutischen Prozesses.
Grundsätzlich bedeutet Existenzanalyse: Analyse auf Existenz hin, das heisst
auf ein eigenverantwortetes, selbstgestaltetes und menschenwürdiges Leben hin.
In der "allgemeinen Existenzanalyse" wird das Sinnbedürfnis des Menschen
als wichtige Grundmotivation sowie die grundsätzliche Möglichkeit der
Sinnfindung im menschlichen Leben erörtert. Auf diese Weise wird die
therapeutische Wirkung einer gelingenden Sinnfindung erklärt und begründet.
In der "speziellen Existenzanalyse" wird das konkrete, individuelle Leben
eines Patienten, eines Klienten oder einer Gruppe auf die möglichen
existentiellen Wurzeln einer seelischen Erkrankung hin durchleuchtet.
Damit erstellt sie die Grundlage für eine Logotherapie als angemessener,
spezifischer Therapie "vom Existentiellen" her. Der therapeutische Aspekt
der Existenzanalyse liegt also in der Erhellung der konkreten existentiellen
Situation und der Vorbereitung der Unterstützung bei der - selbständigen -
Sinnfindung.
Abgrenzungen
Die von Alfried Längle (GLE) propagierte „Personale Existenzanalyse“
ist eine in den 1990er Jahren entstandene Therapierichtung, die
einige von Frankl entwickelte Konzepte übernommen hat. Trotz ihrer Namensähnlichkeit
wird sie aufgrund ihres völlig anderen Menschenbildes und
eines subjektivierten Sinnbegriffs nicht zur Schule der
„Logotherapie und Existenzanalyse" gezählt.
Die von Ludwig Binswanger (1881-1966) entwickelte „Daseinsanalyse“ ist eine
an Martin Heidegger angelehnte, eigenständige Methode der Psychotherapie.
... ZUM WEITERLESEN: BÜCHER VON VIKTOR FRANKL